„F@ck this Job“: Die richtige Doku zur richtigen Zeit – the little queer review (2024)

Beitragsbild: Natalja Sindejewa, Gründerin von Doschd TV, nach ihrer Abstimmung zum Referendum der Verfassungsänderung mit einer Maske auf der „NEIN“ steht, Juli 2020 // Foto: © NDR/BBC/Roastbeef Production

Hinweis: Aufgrund der fortgesetzten kriegerischen Aggression Russlands und des Präsidenten Wladimir Putin gegen die Ukraine haben wir uns entschieden, unseren Redaktionsplan in weiten Teilen umzustellen. Geplante und teils angekündigte Besprechungen und Texte verschieben sich zum Teil.

Wie aus einem eher hingestolperten und unpolitischen Lifestyle-Channel plötzlich ein hochpolitisches, oppositionelles und unabhängiges TV-Projekt wird, das für Freiheit und Selbstbestimmung steht, klingt erstmal nach einer charmanten Story für eine f*ck-Up-Night-mit-Win-Twist. In der preisgekrönten Dokumentation F@ck this Job – Abenteuer im russischen Journalismus ist es vor allem eine Erzählung, die Menschen mit einem vielleicht manches Mal eher verengten Blick auf Russland und die russische Bevölkerung, neue Perspektiven eröffnet.

„Ich werde euch noch so richtig auf die Nerven gehen“

Die von NDR und BBC koproduzierte Dokumentation erzählt die Geschichte des letzten unabhängigen Senders in Russland, Doschd TV, der 2010 mit dem zusätzlichen Claim „Optimistic Channel“ an den Start ging und die seiner Gründerin Natalja Sindejewa (oder auch Natascha Sindeewa, wir verwenden im Beitrag die erste Schreibweise), inklusive einiger persönlicher Schicksalsschläge. Nun also die Frage: Wie kommen wir von einem Kanal, der nur gute, schöne und trendy Nachrichten verbreiten wollte, zum titelgebenden „f*ck this Job“? Wie gehts vom Unpolitischen ins Politische? Das zeichnet die Regisseurin des Films, Vera Krichevskaya (oder auch Wera Kritschewskaja, siehe oben), die den Sender als Producerin mit aufbaute, ihn verließ, als Sindejewa ihr zu nah an den damaligen russischen Präsidenten Dmitrij Medwedew und den Kreml zu rücken schien, später aber wieder zurückkehrte, meist wunderbar nach.

„F@ck this Job“: Die richtige Doku zur richtigen Zeit – the little queer review (1)

Natalja Sindejewa ist Musikmanagerin, IT-Girl und das zu einer Zeit, in der Geld in Russland noch alles und Politik scheinbar wenig bedeutete. Sie heiratet 2006 den Banker Aleksandr „Sasha“ Winokurow, „im russischen Versailles, dem St. Petersburger Peterhof. Dort tanzt Natascha um die historischen Fontänen an der Seite von weltberühmten Ballerinen“, wie es in der Dokumentation heißt und kurvt mit ihrem pinkfarbenen Porsche durch die Gegend.

„Scheußlich“

Noch während der Arbeit an der Gründung des Senders mit ihrem dritten Mann Sasha als Investor wird auch die russische Wirtschaft hart von der internationalen Banken- und Finanzkrise getroffen, doch Sindejewa und Krichevskaya halten am Aufbau des Senders fest, nun eben unter veränderten Bedingungen. Doschd TV, was sich mit „Rain TV“ (tvrain) übersetzen lässt und so auch international bezeichnet wird, geht im April 2010 noch eher unbeholfen an den Start. Sindejewa tanzt im Promotion-Video durch den Regen, die Moderator:innen wissen nicht, wohin sie schauen und wie sie sprechen sollen. Die Bilder, die F@ck this Job hier zeigt, amüsieren durchaus. Es könnte doch alles so schön und ein wenig chaotisch bis heiter sein!

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Doch das Politische dringt auch in den Sender ein, vor das Bewusst-Naive schiebt sich ein gewisses Interesse an dem zunehmend starken Oppositionellen Alexej Nawalny; man ist froh über die vermeintliche Liberalisierung Russlands als Medwedew Präsident wird; als einziger Sender berichtet Doschd über die Proteste nach der Duma-Wahl 2011; der Sender holt Michail Sygar als Chefredakteur, der zuvor lange Jahre Kriegsberichterstatter in Krisengebieten war. Und: Große Teile der Belegschaft des Senders sind LGBTQ*-Personen, das allein darf in einer teils queer- und hom*ofeindlich geprägten Gesellschaft schon als Politikum gelten.

„Unter den Journalisten war ich sicherlich der allererste“

So sagt der stellvertretende Chefredakteur Renat Dawletgildeew im Film: „Als ich zu Dozhd kam, habe ich sofort das Gefühl gehabt, mich nicht verstellen zu müssen, dabei war ich zu dem Zeitpunkt noch nicht ganz im Reinen damit, dass ich schwul bin.“ 2013 kommt das Gesetz gegen „hom*osexuelle Propaganda“, das laut der Doschd-Redakteurin Maria Gessen „erstmals seit der Gründung der Russischen Föderation zu einer Zwei-Klassen-Gesellschaft führt.“

Keine Konversion in Tschetschenien

Vor allem aber, so kommentiert es Regisseurin Vera Krichevskaya aus dem Off, traf es den Sender besonders, da mehr als die Hälfte der Mannschaft aus diesen so genannten Bürgern „zweiter Klasse“ bestand. Hier kommt es zu einer anrührenden Geschichte: Renat Dawletgildeew bekannte sich in einer Ausgabe des Gesellschaftsmagazins Afischa zu seiner hom*osexualität (im Zusammenhang mit Russland darf und sollte wohl durchaus von „bekennen“ gesprochen werden…), was nicht frei von Risiko gewesen sein dürfte. Zumal für eine Person, die „halbwegs medienbekannt“ ist und er hatte das Interview weder mit Natalja noch mit dem Chefredakteur Sygar abgesprochen. Seine Chefin bat ihn in ihr Büro, auch ihr Mann, Sasha Winokurow, war dort. Sie umarmten ihn, schenkten ihm Wein ein und Winokurow bat um ein Autogramm.

„Warum sagen Sie den Bürger:innen nicht einfach die Wahrheit?

Diese Episode steht exemplarisch für etwas, das F@ck this Job von Beginn an deutlich vermittelt – dort ist man im Grunde eine große Familie, mit der klaren Mutter Sindejewa; dass darunter ihre eigentliche Familie zu leiden hat, auch das verdeutlicht der Film. Es gibt hier teils sehr interessante Einblicke in das Seelenleben ihres Mannes, den man sicherlich nicht als breitbeinigen, toxischen Bullen bezeichnen kann.

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Im Lauf der Zeit wird der Sender immer politischer, er berichtet von den Protesten auf dem Maidan-Platz 2014, als die Polizei auf Demonstrierende schießt; aus diesem Bericht kommt der Titel: „f*ck this Job!“ Auch über den Mord an Boris Nemzow und über die Bestrebungen Nawalnys und jene Wladimir Putins, diesen Mann zu verhindern; darüber wie der Präsident in Bezug auf eine Verfassungsänderung gelogen hat (dass sich darüber auch in Deutschland mit einem Pro-Putin-Narrativ berichten lässt, verdeutlicht der Russlandverklärer Hubert Seipel in seinem aktuellen Buch). Derweil wird der Sender der russischen Staatsführung, also Wladimir Putin, immer mehr Dorn im Auge. Die Kabelstationen schmeißen Doschd raus, der Sender wechselt auf ein Abo-Modell, es kommt zu Razzien in den Redaktionsräumen, die ohnehin gewechselt werden müssen, Verfolgungen, Bedrohungen und Co. nehmen zu, schließlich wird der Sender zum „Ausländischen Agenten“ erklärt.

„Wir sind die Auserwählten“

All das fängt die Doku ein, das Entstehen und Wachsen, das Feiern und Kämpfen des Senders wurde von Beginn an von Kameras begleitet. Auffällig ist jedoch, dass diese Nähe, insbesondere zu Sindejewa, manches Mal ein wenig hinderlich wirkt. Fragen wie jene, warum genau die Gründerin und damit der Sender gesellschaftspolitischen Aktivismus als ihren eigentlichen journalistischen Anspruch sehen und wie das auch zu einer gewissen Hybris führen kann, werden nur kurz aufgeworfen, um es dann schnell wieder mit dem Lebenswerk Sindejewas zu begründen.

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Hier bleibt manches, das eine spannende Auseinandersetzung geboten hätte, leider im Vagen. Auch die Verkettung der Ereignisse, die anfangs zum Weggang Vera Krichevskayas und einigem Ärgernis innerhalb des Senders führten, werden etwas verstolpert geschildert. Hier genau das „Wann“ und „Wie“ im Fokus zu behalten, dürfte nicht leicht fallen. Dem Rezensten halfen jedenfalls einige Lektüren zum Sender im Internet sehr, um alles einordnen zu können.

„Wir waren stets an der Spitze großer Ereignisse“

Das alles soll aber nicht nur nicht über die generelle Wichtigkeit von F@ck this Job hinwegtäuschen, sondern auch nicht als allzu großes Problem ausgemacht werden. Zumal dennoch natürlich reichlich Redakteur:innen und Akteur:innen aus dem Sender zu Wort kommen. Auf der anderen Seite sind nämlich speziell die Nähe, die Krichevskaya zu Doschd und Sindejewa hat, sowie das gegenseitige Vertrauensverhältnis der Grund dafür, dass der Film es schafft, die Motivation, am Ball zu bleiben und gegen Widerstände zu bestehen, nachvollziehbar zu machen und uns wie erwähnt ein Bild von Teilen der russischen Gesellschaft zu zeigen, das im Westen Europas bzw. der Welt gern untergehen mag. In China, das sei an dieser Stelle angemerkt, ist der staatliche Einfluss auf die Medien so groß, dass wohl selbst die ersten Schritte eines chinesischen Pendants zu Doschd im Keim erstickt würden.

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Eigentlich sei geplant gewesen, F@ck this Job, dessen Beobachtung bis ins Jahr 2021 reicht, in die Kinos zu bringen (übrigens soll er theoretisch heute in den Kinos Russlands anlaufen) und erst später im TV und der Mediathek zu zeigen, so Barbara Biemann vom NDR, die gemeinsam mit Regisseurin Vera Krichevskaya sowie Jess Search und Sandra Whipham von der Stiftung DocSociety das Projekt von Beginn an begleitete. Dass die Dokumentation, bei der neben dem NDR auch die BBC (die erst recht spät an Bord gewesen sei) als Koproduzentin auftritt, nun aus nachvollziehbaren Gründen vorgezogen und seit dem 25. Februar in der ARD-Mediathek zu finden ist, ist ein Gewinn für all jene, die besser verstehen wollen, was gerade in Russland vor sich geht.

Good Night, and Good Luck

Darüber hinaus hilft diese hochgradig informative und besondere Dokumentation, die Wichtigkeit für offene Berichterstattung und von Meinungs- und Pressefreiheit zu verdeutlichen. Gerade jetzt, hier und heute in Russland. Doschd berichtet unbeirrt weiter über den Angriffskrieg des russischen Präsidenten Putin auf die Ukraine. Kurz nach dem Einmarsch der russischen Truppen wendet sich ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyjauf Doschd TV direkt an das russische Volk.

Moderatoren von #Doschd #tvrain verlesen erst cool Erlass gegen ihren Sender („gerade in meiner Post“). Und sind dann deutlich: Was in der #Ukraine 🇺🇦 passiere, dafür gebe es in 🇷🇺 ja Sprachregelungen. „Aber das heißt Krieg!“ Raketen. Artillerie. Panzer: „Das nennt man Krieg“ pic.twitter.com/SqD3vab4r7

— Markus Preiß (@markuspreiss) March 1, 2022

Zuletzt erreichte der Sender laut Informationen des Brennpunkts vom 1. März 2022 auf YouTube bis zu 25 Millionen Menschen täglich und der derzeitige Chefredakteur, Tichon Dzyadko, betont, er glaube nicht daran, dass die Mehrheit der russischen Bevölkerung hinter diesem Krieg stünde. Die russische Führung spricht übrigens nach wie vor wahlweise von einer „militärischen Spezialoperation“ oder einer „Friedenssicherung“.

Doschd will weitersenden, auch in Russland, irgendwie, irgendwo. Das waren die letzten Worte der beiden Moderatoren, bevor der Sender gestern auf Forderung der russischen Generalstaatsanwaltschaft gesperrt und abgeschaltet wurde.

„Anfangs dachte ich ja, wir werden so einen Lifestyle-Sender mit einem kulturellen und intellektuellen Touch betreiben. Nach und nach erfuhr ich voller Entsetzen, wie viel Ungerechtigkeit überall herrscht. Davor ahnte ich nicht einmal, dass es sie gibt. Da konnte ich nicht tatenlos bleiben.“

Natalja Sindejawa in F@ck this Job

QR

PS: Wir empfehlen einen Besuch der Webpage zum Film, auf der auch ein Gespräch mit dem Friedensnobelpreisträger 2021, Dmitry Muratow, von der Tageszeitung NowajaGazeta zu finden ist.

PPS: Ebenso empfehlen wir das Interview unserer Herausgebers mit dem Russlandexperten Jens Siegert, das für die Einordnung der Ereignisse hilfreich sein dürfte.

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Hinweis: Alle Zitate der Zwischenüberschriften sind der Dokumentation F@ck this Job entnommen.

Die Dokumentation wird am heutigen Dienstag, 21.02.2023, um 23:55 Uhr im NDR wiederholt.

F@ck this Job; Dokumentation, Deutschland/UK, 2021; Regie: Vera Krichevskaya; Laufzeit ca. 90 Minuten; noch bis zum 25.2.2023 in der ARD-Mediathek

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