Ein bis zwei Jahre bleiben die Jugendlichen in diesen Klassen unter sich. Sie sollen sich aufs Erlernen der deutschen Sprache konzentrieren, die Kultur und Gebräuche des Gastlandes kennenlernen. Die Bandbreite der Vorkenntnisse ist groß: Von Schülern, die weder lesen noch schreiben können, zu anderen, die in ihren Herkunftsländern gute Noten schrieben, sich dort aber mit ihren vertrauten Wörtern, in einer von Kindheit an erlernten Schrift ausdrücken konnten.
In den Intensivklassen, in dieser Übergangswelt zwischen dem Davor und dem „normalen“ Schulalltag, sollen sie sich aber auch von den Schrecken vor und während ihrer Reise erholen. Kinder, die zu Fuß über den Balkan gekommen sind, im Auto aus der Ukraine, mit dem Flugzeug aus Gaza, weil die Eltern dort in der Entwicklungshilfe gearbeitet haben. Flucht ist nicht gleich Flucht.
Einer ihrer Schüler, erinnert sich Thiede, eine Junge aus Afghanistan, hatte seinen Vater auf der Flucht verloren, die Mutter und seine Geschwister harrten noch in einem Flüchtlingscamp in Griechenland aus. Er war allein in Hessen gelandet. Der Junge wollte unbedingt auf die Realschule gehen, aber die Noten reichten dafür nicht. Die Lehrerin sagte ihm, er müsse mehr lernen. Er antwortete ihr: „Wissen Sie, ich möchte auch gern so sein wie die anderen Schüler, aber ich kann es halt nicht immer.“
Thiede, die schon seit zehn Jahren mit den Jugendlichen in den Intensivklassen arbeitet, kennt viele dieser Geschichten. Von jungen Menschen, die zu früh zu viel Schlimmes erlebt haben, deren Haare auf der Flucht grau geworden sind. Und die sich in Deutschland in einen Schulalltag integrieren sollen, in dem ihnen jenseits der Vorbereitungsklassen keine Sonderrolle eingeräumt wird. Mehr als maximal zwei Jahre sind dafür nicht vorgesehen, danach sollen die Kinder in die Regelklassen wechseln.
Lehrer sind nicht auf traumatisierte Schüler vorbereitet
In der Mittelstufe ist fast jeder Lehrer der Eichendorff-Schule mit einem oder mehreren Kindern mit traumatischen Erlebnissen konfrontiert, sagt Schulleiter Stefan Haid. Darauf sind sie aber nicht vorbereitet. Der Übergang in die Regelklassen ist für Thiede und Haid aber ein wichtiger Mosaikstein im großen Puzzle des gelingenden Ankommens, ein Schritt auf dem Weg der Integration, nicht nur ein Verwaltungsakt. Dafür wollen die Pädagogen ihre Kollegen aus den Regelklassen mit einem Workshop sensibilisieren und habe sich Unterstützung durch die Psychologin Joanna Wegerer, Landeskoordinatorin des Schwerpunktthemas Migration und Flüchtlingsberatung an der Frankfurter Goethe-Universität, geholt.
Fast 50 Lehrerkräfte sind gekommen, ihnen brennt das Thema sichtlich unter den Nägeln, die ersten Fragen kommen rasch: Soll man die Jugendlichen auf ihre Fluchtgeschichte ansprechen oder eher nicht? Können wir Kindern mit diesen Erfahrungen in der Schule überhaupt gerecht werden? Was, wenn unsere Toleranzgrenze erreicht ist? Kann ich noch Lehrer sein oder muss ich zum Therapeuten werden?
Wegerer beruhigt: Kein Lehrer müsse oder solle als Psychologe auftreten. Es gehe zunächst darum zu verstehen, wie sich ein Trauma, eine andauernde seelische Verletzung, zeigen könne: In Erstarrung, Rückzug, Abwehr oder Flucht aus einer als bedrohlich empfundenen Situation. Aber auch Aggressionen können die Folge sein. Damit haben schon einige der Lehrer Erfahrungen gemacht, und sie berichten, wie schwer ihnen der Umgang damit manchmal fällt. „Zeigen Sie, dass Sie Verständnis für die Lage des Kindes haben, aber dass sie dennoch nicht mit dessen Verhalten einverstanden sind“, rät Wegerer.
Schule sei per se ein guter Raum, um Kinder mit Traumata zu stabilisieren. Weil dort viele günstige Faktoren zusammenkommen: Es gibt eine Tagesstruktur, Routinen und Rituale. Die Vorhersehbarkeit eines Tages vermittele ein Gefühl der Sicherheit und Verlässlichkeit. Beziehungen zu anderen Kindern, Sportangebote, das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, der Klasse und die Möglichkeit, Selbstwirksamkeit zu erleben - all das seien Chancen, die sich für traumatisierte Kinder eröffnen. Die Schule kann zu einer „Insel der krisenfreien Zeit“ werden, wie Wegerer es nennt. Fehlt dieser Zufluchtsort der Alltäglichkeit, hat das Auswirkungen auf die Kinder – was viele Eltern im Lockdown während der Corona-Pandemie miterleben mussten, sagt die Psychologin.
Auf die Frage, ob man nach der Fluchterfahrung der Kinder fragen sollte, hat Wegerer keine Standardantwort parat. So wie es eben auch nicht den Standard-Flüchtling gebe. „Es geht vielmehr darum, sich die verschiedenen Herausforderungen und Belastungen bewusst zu machen, die die geflüchteten Familien zu bewältigen haben“, sagt die Psychologin. Wohnen sie in einer Gemeinschaftsunterkunft, bangen sie um ihren Aufenthaltsstatus, wie finden sie sich in der fremden Kultur zurecht, haben die Kinder Kriegserlebnisse zu verarbeiten, wie geht es den Angehörigen zuhause, schlafen sie schlecht, haben sie wiederkehrende Albträume? All das unterscheide die Realität dieser Kinder von der ihrer Mitschüler.
Verlust von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Jene die allein angekommen sind, haben auch kein familiäres Nest, in dem sich Erwachsene um ihre Belange kümmern. Doch all diesen Umständen zum Trotz seien Kinder erstaunlich resilient, sagt die Psychologin. Sie passen sich neuen Situationen häufig leichter als ihre Eltern an, die ihre Flucht als Verlust der ihnen vertrauten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wahrnehmen. Viele Kinder überstehen jedoch solche Krisen gut, weiß die Psychologin. Sie lernen bereitwillig, integrieren sich. Für Wegerer eine der wichtigsten Botschaften überhaupt: Die meisten Jugendlichen schaffen das auch.
Aber es kommt auf verständnisvolle Begleiter an, die die Bürde dieser jungen Menschen, ihr emotionales Gepäck, auch wahrnehmen können. Es kann auch in der Schule zu Zwischenfällen kommen, wenn scheinbar harmlose Ereignisse die jungen Geflüchteten bedrängen. Wegerer erzählt als Beispiel von einem Kind, das von einem Feueralarm im Klassenzimmer an ein Kriegserlebnis erinnert wird. Es flüchtet sich weinend unter den Tisch. Ein Trauma, erklärt die Psychologin, ist wie eine Erinnerungsstörung, das Hier und Jetzt kann von dem Dort und Damals nicht unterschieden werden. In so einem Schlüsselmoment, komme es ganz auf die Reaktion des Lehrers an, so Wegerer. Weil er jetzt nicht weniger als der Fels in der Brandung sein müsse, dem Kind Sicherheit vermitteln, auch wenn ihn die Situation selbst verunsichere.
Die Annahme des Guten Grundes
An die Lehrer richtet Wegerer noch andere Appelle: Davon auszugehen, dass traumatisierte Jugendliche für ein unerwartetes, störendes Verhalten meist einen guten Grund hätten – den man zu diesem Zeitpunkt nur noch nicht kenne. Und sie regt an, vermeintlich eherne Regeln im Klassenzimmer zu überdenken, falls sich ein traumatisiertes Kind mit ihnen nicht wohl fühle. Etwa ob es die Kapuze aufbehalten darf, weil das Verstecken ihm Sicherheit gibt, oder dass es einen Sitzplatz wählen darf, an dem es sich sicher fühlt, zum Beispiel mit Blick auf eine Fluchtmöglichkeit, die Tür oder das Fenster. So könnten Kinder wieder das Gefühl bekommen, einerseits mit ihren Nöten gesehen und andererseits zumindest in kleinen Teilen ihres Lebens Kontrolle zurück zu bekommen.
Petra Thiede, die schon seit zehn Jahren in den Intensivklassen der Eichendorff-Schule unterrichtet, fasst es so zusammen: Man sollte einen Schüler nicht nur danach beurteilen, dass er nicht mehr in die Schule kommt oder teilnahmslos in der Ecke sitzt. Weil Faulheit dafür nur eine von vielen Erklärungen ist, bei ihren Schülern kann es auch sogenannter toxischer Stress sein. Wenn junge Menschen in einer Dauerkrise leben, kann das ihre Gehirnleistung einschränken: Lernfähigkeit, Konzentration, ihr Verhalten und soziale Beziehungen sind davon beeinträchtigt.
Manchmal schlägt nur die Pubertät durch
Manchmal schlage aber auch ganz banal die Pubertät durch, sagt die Lehrerin. Die Kinder, von denen immer mehr alleine auf die Reise nach Westeuropa geschickt würden, müssten auf ihrem langen Weg schnell erwachsen werden. Oder zumindest so tun, als wären sie es. Sie kommen ruhig und besonnen an, „aber dann holen sie ihre Pubertät bei uns nach“. Heißt: Nicht alle werden sofort zu Musterschülern, die sich an alle Regeln halten. Bei manchen passiert genau das Gegenteil, denn dass Teenager Autoritäten herausfordern, Eltern wie Lehrer, sei eben auch altersgemäß.
Der Workshop mit Joanna Wegerer für das Kollegium ist nur ein Teil dessen, wie die Eichendorff-Schule den ausländischen Schülern die Ankunft erleichtern will. Dabei hilft ihr, dass sie eine von etwa hundert selbstständigen Schulen in Hessen ist, die ein Teil ihres Budgets selbst verwalten und zum Beispiel für solche Weiterbildungen einsetzen können oder Sommersprachcamps und Verkehrssicherheitstraining mit dem Rad. Für ihre Projekte haben sie auch Sponsoren wie die Rotarier, die Bürgerstiftung und die Firma Howmet Aerospace gewinnen können.
„Aber was wir hier machen, braucht auch einen kommunalen Partner“, sagt Schulleiter Haid. Das Amt für Jugend und Integration in Kelkheim kümmere sich um Unterbringung und Erstausstattung der jungen Geflüchteten, vermittele Kontakte zu Jugendzentren und Sportcoaches, um Zugang zu Vereinen zu bekommen. „Es braucht zwei Partner: Wir als Schule strukturieren den Vormittag, die Kommune übernimmt den Nachmittag“, sagt der Pädagoge.
An der Schule ist man seit Jahren auf ausländische Mitschüler eingestellt: Die Schulregeln sind in 27 Sprachen verfasst, im Regelbetrieb wird sprachsensibel unterrichtet. Das heißt, dass beispielsweise ein Geschichtslehrer im Unterricht auch eine kleine Vokabelliste an die Tafel schreibt, weil sonst eine historische Quelle nicht verstanden werden könnte. Es kann auch soweit gehen, dass ein Lehrer das Unterrichtsmaterial auf verschiedenen Niveaus bereitstellt, weil Jugendlichen, die erst seit zwei Jahren in Deutschland sind, viel Hintergrundwissen fehlt. Eine enorme Zusatzarbeit für die Pädagogen, aber hilfreich für die Neuankömmlinge.
Am Ende all dieser Bemühungen steht für die Schüler der Intensivklassen dennoch nicht immer der erfolgreiche Abschluss. Die Unterschiede in Motivation, Vorbildung und Resilienz seien manchmal zu groß, stellt Thiede fest. Als um so größeres Glück empfindet sie es, wenn ehemalige Schüler das Fachabitur geschafft haben. „Wenn die sich bis dahin durchgebissen haben, das freut mich immer sehr.“