Katharina Thalbach, geboren am 19. Januar 1954 in Berlin, Tochter der Schauspielerin Sabine Thalbachund des Regisseurs Benno Besson. Sie wächst "auf der Bühne" auf: Häufig begleitet sieihre Mutter, die am Berliner Ensemble und dem Deutschen Theater engagiert ist, ins Theater. Schon mit vier Jahrenspielt sie Kinderrollen auf der Bühne, im Fernsehen und im Film. Nach dem Tod der Mutter 1966 nimmt HeleneWeigel sie unter ihre Obhut und bietet ihr einen Meisterschülervertrag an. Mit fünfzehn debütiertsie als Hure Betty in Erich Engels Inszenierung der "Dreigroschenoper", sie übernimmt im gleichenJahr, am 25.12.1969, vertretungsweise die Hauptrolle der Polly und wird als Entdekkung gefeiert.
Sie spielt weiter am Berliner Ensemble und ab 1971 (nach dem Abitur an der Max-Planck-Oberschuleund absolvierter Bühnenreifeprüfung) an der Volksbühne Berlin, wo ihr Vater als Intendant tätigist. Ihre größten Bühnenerfolge werden die Doppelrolle der Venus / Galatea in Peter Hacks' Bearbeitungvon Offenbachs "Die schöne Helena" (1972), die Desdemona neben Rolf Ludwig in Karge / LanghoffsInszenierung von "Othello" (1972), für die sie den Kritikerpreis der Berliner Zeitung erhält,und die Mira in Francisco Pereira da Silvas "Speckhut" (R: Karge / Langhoff). 1974 kündigt sie ihrEngagement an der Volksbühne und schließt sich im September 1975 wieder dem Berliner Ensemble an. Im"Kramladen" des Jugendzentrums Weißensee tritt sie im Jazz-Oratorium "Hahnenkopf" auf,das der Schriftsteller und Dramatiker Thomas Brasch mit dem Jazzmusiker Ulrich Gumpert erarbeitet.
Nachdem Thalbach bereits mit vier Jahren ihr Debüt in dem TV-Film BEGEGNUNG IM DUNKEL gegebenhat, tritt sie gelegentlich in Kinderrollen auf - 1963/64 in dem 2-teiligen TV-Film DER NEUE neben ihrer Mutter.1961 erhält sie von Lothar Warneke mit der Tini in ES IST EINE ALTE GESCHICHTE ihre erste größereFilmrolle. 1973 spielt sie in Konrad Wolfs DER NACKTE MANN AUF DEM SPORTPLATZ eine junge Schwangere. (Im gleichenJahr wird ihre Tochter Anna geboren, Sprößling aus ihrer nur ein Jahr währenden Ehe mit dem SchauspielerVladimir Weigel). In DIE FRAUEN DER WARDINS, der mehrteiligen Geschichte einer märkischen Bauernfamilie, istsie die Bauerntochter Maria, deren Liebe zu einem kommunistischen Arbeiter im Selbstmord mündet.
1974 synchronisiert sie in Siegfried Kühns Goethe-Verfilmung DIE WAHLVERWANDSCHAFTEN MagdaVasary in der Rolle der Ottilie; danach spielt sie in zwei von Egon Günthers Goethe-Filmen: In LOTTE IN WEIMARstellt sie als Ottilie die Hauptdarstellerin Lilli Palmer in den Schatten; 1976 ist die Lotte in DIE LEIDEN DESJUNGEN WERTHERS, die sie mit einer "Aura von Kälte" (K. H. Kramberg) darstellt, ihre erste Hauptrolle.
Einen Monat nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann siedelt Thalbach im Dezember 1976 mitihrem damaligen Mann Thomas Brasch, der als politisch mißliebiger Autor seine Werke kaum noch publizierenkann, nach West-Berlin um. 1978 debütiert sie in der Titelrolle von Braschs Stück "Lovely Rita"an der Werkstattbühne des Schillertheaters (R: Niels-Peter Rudolph). Als Gaststar wirkt sie in Inszenierungender Regisseure Hans Lietzau ("Der Biberpelz"), Jürgen Flimm ("Käthchen von Heilbronn",Köln 1979; auch TV), Hans Neuenfels (Prothoé in "Penthesilea", Schillertheater 1981) mit.Für ihre Darstellung des Käthchens wird sie von den Kritikern der Zeitschrift Theater heute zur Darstellerindes Jahres 1980 gewählt.
1984 setzt ihr Vater Benno Besson sie als Ophelia in seinem "Hamlet" am SchauspielhausZürich ein. Dort spielt sie auch die Rolle der Oi in der Uraufführung von Braschs "Mercedes"(R: Matthias Langhoff, 1983). In Ernst Wendts Inszenierung von Shakespeares "Was ihr wollt" (Schillertheater1984/85) übernimmt sie die Doppelrolle Viola und Sebastian. Dort spielt sie 1992 unter der Regie ihres Vatersdie Titelrolle in Corinne Serraus "Hase Hase", 1996 folgt am Thalia Theater in Hamburg die Mutter Courage(R: Jérôme Savary).
Katharina Thalbach in FLUCHT IN DEN NORDEN (1985) |
Auch im Film gelingt Thalbach der Anschluß an die bundesdeutsche Szene und mit ihrer spezifischenMischung von Unschuld, Sex und Lebenserfahrung überzeugt sie sofort in wichtigen Rollen. In Margarethe vonTrottas DAS ZWEITE ERWACHEN DER CHRISTA KLAGES ist sie eine Bankangestellte, die auf eigene Faust eine Bankräuberinverfolgt, in Volker Schlöndorffs DIE BLECHTROMMEL Oskars junge Stiefmutter und Liebhaberin Maria, in GeissendörfersTV-Film die revolutionäre Tochter des Reichstagsabgeordneten THEODOR CHINDLER. Im 2-teiligen Filmessay FLUCHTWEGNACH MARSEILLE bringt Thalbach in einem langen Monolog ihre persönliche Sicht auf Anna Seghers Exil-Roman"Transit" ein.
Die größten Rollen bietet ihr Thomas Brasch in seinen Filmen. In seinem DebütENGEL AUS EISEN spielt sie die weibliche Hauptrolle Lisa Gabler, die in den ersten Nachkriegsjahren mit der - authentischen- Gladow-Bande die unsicheren Verhältnisse zu Raubzügen im geteilten Berlin nützt. Die Rolle derSchauspielerin Lisa in DOMINO ist ihr - unter Verwendung biografischer Motive - auf den Leib geschrieben. "Lisaist Katharina Thalbach: Ihre Wärme, ihre Lebendigkeit, ihr so scheues, so offenes, so erfahrungsgieriges undverletzliches Kindergesicht gibt der episodisch lockeren Geschichte Halt." (Der Spiegel, Nr. 25, 1982). InBraschs PASSAGIER - WELCOME TO GERMANY spielt sie 1987 die Maskenbildnerin Sofie, eine Überlebende des Holocaust.
Für ihre Darstellung der widerspruchsvollen Lotte in Dorris Dörries BeziehungsdramaPARADIES wird sie mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet. In den nächsten Jahren folgt eine Reihe weitererHauptrollen in Kino und Fernseh-Produktionen: Als engagierte Journalistin kommt sie in dem Gentechnologie-ThrillerDER ACHTE TAG (R: Reinhard Münster) einem Netz von Intrigen und Korruption auf die Spur, in DIE DENUNZIANTIN(R: Thomas Mitscherlich) spielt sie die Luftwaffenhelferin Helene Schwärzel, die den WiderstandskämpferCarl Goerdeler verrät, und in Peter Sehrs KASPAR HAUSER überzeugt sie als die intrigante GräfinHochberg. Für das Fernsehspiel GEFÄHRLICHE FREUNDIN (R: Hermine Huntgeburth), eine psychologisch feinsinnigeStudie der konflikthaften Beziehung zweier ungleicher Freundinnen, wird sie 1997 gemeinsam mit Corinna Harfouchmit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet.
Seit Ende der 80er ist Thalbach auch als Bühnenregisseurin tätig: An der Werkstattbühnedes Schillertheaters gibt sie 1987 ihr Regiedebüt mit "Macbeth", einer makabren Show um Sex, Mordund Intrigen, in der sie vor allem patriarchalisches Machtgebaren lustvoll und frech in Szene setzt. Ähnlichrespektlos ist 1989 ihre Inszenierung von Brechts "Mann ist Mann" am Thalia Theater. In den nächstenJahren folgen u.a. "Romeo und Julia" (1990, in der Bearbeitung von Brasch) und "Wie es euch gefällt"(1993), beide am Schillertheater. 1994 gibt sie mit Brechts "Die Dreigroschenoper" ein weiteres Gastspielam Thalia Theater. 1996 inszeniert sie am Maxim Gorki Theater in Berlin "Der Hauptmann von Köpenick",wo sie für den zeitweise indisponierten Harald Juhnke vertretungsweise auch die Titelrolle übernimmt,es folgt Molières "Don Juan oder der steinerne Gast". 1997 debütiert sie in einem berlinerKulturzentrum mit Mozarts "Don Giovanni" auch als Opernregisseurin und verschreckt mit Techno-Einlagendas Publikum. Über ihre Arbeit sagt sie selbst: "Ich versuche - als Regisseurin und Schauspielerin -immer irgendwie, und sei es auf die abwegigste Art und Weise, Punkte von Utopie herauszukriegen, deshalb auch dasTheater als vergnügliche Anstalt zu sehen und nicht nur als Abbild der Welt und der Realität. Ich willzeigen, daß es andere Möglichkeiten gibt, als sich den Strick zu nehmen." (die tageszeitung, 18.5.1988).
Katharina Thalbach lebt in Berlin. Ihre Tochter Anna, die seit ihrem 7. Lebensjahr regelmäßigvor der Kamera steht und in einigen Filmen der Mutter mitgewirkt hat, ist ebenfalls eine gefragte Schauspielerin.
Hans-Michael Bock
Auszeichnungen
- 1971 Kritikerpreis (DDR): Beste Nachwuchsschauspielerin.
- 1973 Kritikerpreis der Berliner Zeitung für die Rolle der Desdemona.
- 1978 Bayerischer Filmpreis: Beste Nachwuchsdarstellerin.
- 1980 Deutscher Darstellerpreis der Film und Fernsehregisseure.
- 1980 Theater heute: Schauspielerin des Jahres 1980.
- 1983 IFF Locarno: Darstellerpreis (TV-Film) für DOMINO.
- 1987 Deutscher Filmpreis: Filmband in Gold (Beste Darstellerin) für PARADIES.
- 1991 Konrad-Wolf-Preis der Akademie der Künste Berlin.
- 1992 Kritikerpreis (Barcelona): Beste ausländische Inszenierung für "Macbeth".
- 1997 Adolf-Grimme-Preis für GEFÄHRLICHE FREUNDIN mit Corinna Harfouch.
Literatur
- Marlis Tico: Die Polly auf der Bühne, die Tini im Film. In: Filmspiegel (DDR), Nr. 19, 1972.
- Anna Stefan: Ungeduld einer jungen Schauspielerin. In: Filmspiegel (DDR), Nr. 10, 1976.
- Rosemarie Rehahn: Die Thalbach. In: Horst Knietzsch (Hg.): Prisma 7. Berlin/DDR: Henschel 1976, S. 80-94. (Interview).
- Ingeborg Pietzsch: Katharina Thalbach. In: Renate Seydel (Hg.): Schauspieler. 3. bearb. Aufl. Berlin/DDR: Henschel1976, S. 288-291.
- Thomas Brasch, Sandra Weigl, Katharina Thalbach: Rotter und weiter: ein Tagebuch, ein Stück, eine Aufführung.Frankfurt: Suhrkamp 1978.
- Bion Steinborn, Christel Brunn: "Im Kino ist der Zuschauer ein Opfer der Einbeutung". In: Filmfaust,Nr. 30, Oktober/November 1982, S. 4-25. (Gespräch mit Brasch und Thalbach).
- Siegfried Tesche: Katharina Thalbach. In: Die neuen Stars des deutschen Films. München: Heyne 1985, S.297-301.
- Michael Merschmeier: Auf den Brettern schwebend, die die Welt bedeuten. Annäherung an ein Naturtalent.In: Theater heute, Nr. 4, April 1985, S. 2-10.
- Wolfgang Timpe: Nicht von dieser Welt. In: tip, Berlin, Nr. 23, 1986, S. 36-38 (Interview).
- Karsten Witte: Katharina Thalbach. In: Uta Berg-Ganschow, Wolfgang Jacobsen (Hg.): ... Film ... Stadt ... Kino... Berlin. Berlin/West: Argon 1987, S.72-73.
- J. Geleng: Die dreifache Katharina Thalbach. In: Bühne und Parkett, Nr. 3, Mai/Juni 1988, S. 12-13.
- Olaf Leitner: Lady Macbeth. Gespräch mit Katharina Thalbach. In: tip, Berlin, Nr. 4, 1988, S. 92-94.
- C. Bernd Sucher, 155 Zentimeter frech. In: C. Bernd Sucher: Theaterzauberer. München: Piper 1988, S. 281-285.
- Katharina Thalbach. Ihre Filmrollen. Kiel: Kommunales Kino in der Pumpe 1988.
- Urs Jenny: Clown, Irrlicht, Engel aus Berlin. In: Der Spiegel, Nr. 25, 1989, S. 174-178.
- Annette Rupprecht: Mit Courage durchs Leben. In: Stern TV, 1.3.1990, S. 6-9.
- Günter Gaus: Theater als Form des Überlebens. In: Freitag, 29.11.1996. (Interview).
- Marlies Menge: Meine Stadt und meine Sprache. In: Die Zeit, 4.3.1999.